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Eugène Sue

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Eugène Sue
(Arzt, Abgeordneter, Schriftsteller)
* 26.01.1804 Paris
+ 03.08.1857 Annecy

Eugène Sue wird 1804 als Sohn eines Chirurgen geboren. Er ergreift den Beruf des Vaters, nimmt 1823 als Militärarzt am Spanienfeldzug teil und geht dann als Schiffsarzt zu See. Als er 1829 nach Paris zurückkehrt, will er Maler werden und wird Schüler des Marine-Malers Gudin. Er führt ein ausschweifendes Leben in der Pariser Gesellschaft (das Bild zeigt ihn als Dandy zu Pferd) und beginnt zu schreiben. Nach kurzen Lustspielen, polemischen, gegen die Republikaner, den bürgerlichen Geschmack und die modernen Zeiten gerichteten Zeitungsartikeln verfaßt er 1830 seinen ersten Roman. KERNOK, DER PIRAT (KERNOK, LE PIRATE) ist ein Seeroman, basierend auf Sues Erfahrungen und beeinflußt von Coopers THE PILOT und THE RED ROVER. Sue fügt Elemente von Zynismus und schwarzer Romantik hinzu - Kernok ist ein wahrhaft diabolischer Pirat, ein Meeresdämon, dem nichts widerstehen kann.

Obwohl Sue zu dieser Zeit nicht die Absicht hat, Schriftsteller zu werden, veranlaßt ihn der Erfolg von KERNOK (auch Balzac ist voll Bewunderung), weitere Seeromane zu schreiben. In schneller Folge erscheinen EL GITANO (1830), PLIK ET PLOK (1831), ATAR-GULL (1831) und LA SALAMANDRE (1831). Sue bringt in seine Seeromane weitere Motive ein, wie die der Robinsonade (Schiffbruch in LA SALAMANDRE) und des exotischen Abenteuerromans (ATAR-GULL). Bei Sue sind die Schauplätze, das Meer und fremde Länder, vor allem Regionen ohne Gesetz, in denen sich Leidenschaften entfalten können. Die Schiffbrüchigen in LA SALAMANDRE (von Jules Verne in einer gemilderten Form als LE CHANCELLOR nacherzählt) geraten außer Kontrolle, werden zu Kannibalen und verlieren vollständig ihre Würde. Kernok, ein brutales und grausames Monster, wird von Brulart, einem machiavellistischen und perversen Adligen, an Bösartigkeit in ATAR-GULL noch weit übertroffen. Naturgewalten spielen in Sues Seeromanen nur noch eine Rolle als Spiegel der Anti-Helden, als Rahmen ihrer schwarzen Seelen.

1835 bis 1837 schreibt Sue eine Geschichte der französischen Marine (HISTOIRE DE DE LA MARINE FRANCAISE), die sich schlecht verkauft, und andere Schriftsteller, wie Augustin Jal, sind mit realistischen Seefahrergeschichten erfolgreicher. Sue ist finanziell ruiniert und versucht sich mit Sittenromanen wie ARTHUR (1838/39) und MATHILDE (1841) über Wasser zu halten, wobei er seinen Ruf als Lebemann als Reklame nutzt. Seine Sittengemälde, ganz im Geist seiner Seeromane, sind Schilderungen der Perversitäten der Welt, ein erster Schritt in Richtung seiner späteren Romane über die Gesellschaft. Gleichzeitig veröffentlicht er weitere exotische Romane, wobei nun die Vergangenheit anstelle der fremden Länder die Rolle der Exotik übernimmt. Seine historischen Romane, in denen Sues schwarze Romantik weiter ihre Funktion hat, haben ihre Vorbilder bei Scott (JEAN CAVALIER, 1840, wohl Vorbild für Alexandre Dumas` Roman LES MASSACRES DU MIDI) und bei Ainsworth in dem düsteren Roman LATRÉAUMONT (1837). Ein weiterer Roman dieser Reihe ist LE COMMANDEUR DE MALTE (1841). Der unterschiedliche Erfolg dieser historischen Romane ist wohl ein Zeichen für die Schwierigkeiten von Eugène Sue, sich neu zu orientieren.

Etwa um 1841 wird aus dem Dandy der Sozialist. Schon in seiner Marinegeschichte hatte Sue die Monarchie attackiert, was ihn aus den Salons zunehmend ausschloß und es ihm erleichterte, sich von den dort herrschenden Denkmustern zu lösen. Sein Pessimismus verliert nun die zynische Note und erhält soziale Komponenten. Wenn er auch in seinen späteren Werken die Unausweichlichkeit des sozialen Fortschritts propagiert, behalten seine Romane doch immer ihre zutiefst pessimistische Grundstimmung.

Das erste Werk, welches Sue im Geist seiner neuen ideologischen Ausrichtung verfaßt, ist DIE GEHEIMNISSE VON PARIS (LES MYSTÈRES DE PARIS). Zusammen mit dem Helden Rudolf von Gerolstein begibt sich Sue in die Niederungen, die untersten Schichten der Stadt und entdeckt in diesem dunklen Teil der Gesellschaft die dort herrschenden Schrecken und Ungerechtigkeiten. Allerdings weit davon entfernt, die Ursachen der Mißstände als systembedingt zu erkennen, bietet Sue seinen Lesern als Weg zur Änderung der Zustände das Eingreifen des mächtigen, gottähnlichen Helden Rudolf an.

Als revolutionäre literarische Innovation führt Sue ganz bewußt als Schauplatz der Abenteuerhandlung einen neuen exotischen Raum ein, die Unterwelt der eigenen Stadt. In der Einleitung schreibt er:

... Man hat die bewundernswürdigen Stellen gelesen, in denen Cooper, der amerikanische Walter Scott, die rohen Sitten der Wilden, ihre malerische, poetische Sprache und die tausendfache List schildert, mittelst welcher sie ihren Feinden entfliehen oder dieselben verfolgen.
       Man hat für die Ansiedler und für die Bewohner der Städte gezittert, wenn man bedachte, daß so nahe bei Ihnen jene wilden Stämme hauseten und umherzögen, die durch ihre blutdürstigen Gewohnheiten von unserer Civilisation so fern gehalten werden.
       Wir wollen versuchen, an den Augen des Lesers einige Episoden aus dem Leben anderer Wilden vorüberzuführen, die eben so fern von der Civilisation stehen wie die wilden Völkerschaften, welche Cooper so vortrefflich geschildert hat.
       Der Unterschied ist nur der, daß die Wilden, von denen wir sprechen, mitten unter uns leben; wir können sie berühren, wenn wir uns in die Kneipen wagen, in denen sie leben und zusammenkommen, um über Diebstähle und Todtschläge zu berathen und den Raub zu theilen.
       Diese Männer haben eigenthümliche Sitten, besondere Frauen und eine eigene, geheimnißvolle Sprache, die reich ist an schauerlichen Bildern und blutigen Metaphern.
       Wie die Wilden geben diese Menschen einander meist Beinamen, die ihrer Energie, ihrer Grausamkeit, gewissen körperlichen Vorzügen oder Gebrechen entlehnt sind.
...

Dumas benennt das, worum es geht, in einem von Sue inspirierten Roman schon im Titel: DIE MOHIKANER VON PARIS (LE MOHICANS DE PARIS, 1853).

LES MYSTÈRES DE PARIS, 1842/43 im Feuilleton der Zeitung JOURNAL DES DÉBATS abgedruckt, wird zum großen Romanerfolg des Jahrhunderts. Eugène Sue verwendet die Technik des Feuilletonromans mit großer Virtuosität. In immer neuen Fortsetzungen vervollkommt er seine Technik. Es gelingt ihm, jede Episode mit genügend Eigenleben auszustatten, um sie für sich gut lesbar zu machen, gleichzeitig aber die Erwartung auf die nächste Fortsetzung durch offene Spannungsbögen auf die Spitze zu treiben. Die Auflage der Zeitung vervielfacht sich, die 10-bändige Buchausgabe erscheint kurz darauf, Übersetzungen in viele Sprachen folgen. In Deutschland erscheint der Roman zeitgleich in mindestens 12 Zeitungen, Buchausgaben erscheinen in verschiedenen Verlagen, z.B. bei Otto Wigand in Leipzig ab 1842 (1844 schon in 7. Auflage) und 1843 illustriert von Theodor Hosemann in Berlin bei Meyer & Hofmann. Und auch noch in der heutigen Zeit ist DIE GEHEIMNISSE VON PARIS in einer Vielzahl von Ausgaben auf dem Buchmarkt vertreten

Die Wirkung des Romans und des darin enthaltenen neuen Bildes der Stadt auf die nachfolgende Abenteuerliteratur (aber nicht nur auf diese - siehe Schnitzlers Hinweis auf Dostojewski) ist fundamental. Es gibt kaum einen Abenteuerautor des 19. Jh., der das von Sue geschaffene Muster nicht verwendet (eines der deutlichsten Beispiele ist DER VERLORENE SOHN von Karl May) und auch der spätere Kriminalroman kann seine Sue`schen Wurzeln nicht verbergen. Das Muster des sich verkleidenden, eine andere Idendität annehmenden Detektivs wird auch heute noch mit Sue in Zusammenhang gebracht (Eugène Sue und Günter Wallraff. Notizen zur Strategie des aufklärerischen Erfolgs: Eugène Sue ' Geheimnisse von Paris' und Günter Wallraffs 'Ganz unten'. Berlin: Das Arsenal, 1987) und interessant wäre eine Untersuchung darüber, in welchem Maß auch unser heutiges Bild der Stadt noch von DIE GEHEIMNISSE VON PARIS geprägt ist.

Auch das nächste Werk von Eugène Sue ist ungeheuer erfolgreich. In DER EWIGE JUDE (LE JUIF ERRANT, 1844/45) präzisiert Sue seine politische Vision und erweitert sein Konzept, indem er eine historische und eine mythische Dimension einführt (die mythische Figur des juif errant symbolisiert die gleichbleibende Unterdrückung des Volkes durch die Mächtigen - hier verkörpert durch die Jesuiten - im Lauf der Jahrhunderte) und indem er den Schauplatz auf das ganze Land ausdehnt.

Weitere nicht ganz so erfolgreiche Fortsetzungsromane dieser Zeit sind MARTIN, DAS FINDELKIND (MARTIN, L`ENFANT TROUVÉ, 1847) und DIE SIEBEN TODSÜNDEN (LES SEPT PÉCHÉS CAPITAUX, 1847).

Die Revolution von 1848 bestätigt Sues soziale Vorstellungen. Er glaubt nun, nicht nur literarisch, sondern auch politisch aktiv werden zu müssen, um Verbesserungen für die Bedürftigen zu erreichen, und läßt sich 1850 als Abgeordneter in die Nationalversammlung wählen. Mit großem Einsatz kämpft er für humanitäre und auch revolutionäre Ideen.

Schon 1849 beginnt er mit seinem Hauptwerk, dem ultimativen Geheimnisroman LES MYSTÈRES DU PEUPLE OU HISTOIRE D`UNE FAMILLE DE PROLÉTAIRE A TRAVERS LES AGES, an welchem er bis zu seinem Tod arbeiten wird. Im Vergleich zu den Vorgängern ist das Werk genauer in den politischen Aussagen, konsequenter in der Verfolgung der politischen Ziele und entlarvender für die Mächtigen. Der Nebentitel zeigt, worum es geht: die Geschichte einer Proletarierfamilie durch die Jahrhunderte. Nicht mehr exotische Gestalten der Unterwelt stehen nun im Mittelpunkt, sondern das Volk selbst. Der Episoden-Roman beginnt am Vorabend des von Vercingetorix gegen die römischen Invasoren geführten Gallischen Kriegs und endet mit dem Staatsstreich von Napoleon III. Behandelt werden die Hauptstationen der französischen Geschichte, wie die Invasion der Franken, die Kreuzzüge, das Martyrium der Albigenser, Jeanne d`Arc, Saint Barthélemy und die französische Revolution. Die meisten der großen Persönlichkeiten der Geschichte tauchen auf - Vercingetorix, Cäsar, Karl Martel, Karl der Große, Etienne Marcel. Es gibt einen Umweg nach Palästina, wo ausführlich die letzten Tage eines Christen geschildert werden, der von denen, die die Kirche repräsentieren sollen (allen voran Petrus), verraten wird. Jede Episode wiederholt das zentrale Anliegen des Werks, die Konfrontation der Klassen (Ausbeuter gegen Ausgebeutete, Adel und Geistlichkeit gegen das Volk), der Rassen (Römer und Franken gegen Gallier) und der Familien (die Plouernels und Nerowegs mißhandeln über Jahrhunderte die Lebrenns aus dem Stamm der Karnak). Der Sinn der Geschichte entwickelt sich aus den Zusammenhängen und wird so neu definiert mit der Folge, daß in dieser politischen Neubestimmung Julius Cäsar pervers, der Heilige Petrus ein Feigling, Karl Martel brutal und Hughes Capet ein Verschwörer ist. Das Konzept von Eugène Sue benennt Formen der Entfremdung (Gewalt, Entwürdigung von Körper und Seele, freiwillige Knechtschaft und Verdummung) und radikalisiert den politischen Diskurs durch den Nachweis der Notwendigkeit von politischer Konfrontation. Dies alles geschieht im Gewand des Feuilleton-Romans mit allen seinen Versatzstücken: gefolterte Körper von Jungfrauen, Manipulationen der Geistlichkeit, Gewalttätigkeit des Adels, Aufbegehren des Volkes. Und mehr und mehr tauchen Figuren aus den Vorgänger-Romanen auf, die unglückliche Familie des umherirrenden Juden, Rodin und die Jesuiten, und die Lebrenns sind Vettern von Rudolf von Gerolstein.
LES MYSTÈRES DU PEUPLE soll Grundlage seiner früheren Hauptromane werden, indem hier ihre Handlung erklärt und gerechtfertigt wird, ganz so, als sei der neue Roman die Wirklichkeit, von der die früheren Romane berichten. So will LES MYSTÈRES DU PEUPLE nicht nur den Geschichtsverlauf als Ganzes erfassen, sondern gleichzeitig die Gesamtheit der Werke von Eugène Sue.
Seine Pläne gehen noch weiter - die Geheimnisse der ganzen Welt und die Leiden aller Völker des Planeten sollen der Inhalt seines letzten Romans werden. Aber LES MYSTÈRES DU MONDE wird er nicht mehr schreiben, sein Tod vereitelt das Projekt.

Die Mächtigen lassen sich die Angriffe in LES MYSTÈRES DU PEUPLE nicht bieten. Als Sue gegen den Staatsstreich von Louis Napoleon vom 2. Dezember 1851 vehement protestiert, wird er in die Verbannung nach Annecy geschickt. Später wird ihm in einem Aufsehen erregenden Prozess vorgeworfen, er vernichte in seinem Buch die Grundlagen von Moral, Religion und Gesellschaft und rufe zum Vernichtungskrieg gegen Kirche und Adel auf. LES MYSTÈRES DU PEUPLE wird verboten. Er veröffentlicht zwar noch weitere Romane, wie DIE KINDER DER LIEBE (LES ENFANTS DE L`AMOUR, 1850), DIE PROPHEZEIUNG (LA BONNE AVENTURE, 1850/51), FERNAND DUPLESSIS (1851/53), DIE FAMILIE JOUFFROY (LA FAMILLE JOUFFROY, 1853/54), DER TEUFEL ALS ARZT (LE DIABLE MÉDICIN, 1854/55), DIE FAMILIENSÖHNE (LES FILS DE FAMILLE, 1856), hat aber keinen rechten Erfolg mehr. Sein Stil ist jetzt nicht mehr gefragt, der moralistische und messianische Ton seiner Romane gefällt den Lesern nicht mehr. Es kommt die Zeit für die frivoleren Feuilleton-Romane von Ponson du Terrail, Rocambole und vor allem von Paul Féval.

Am 3. August 1857, kurz nachdem er sein Hauptwerk LES MYSTÈRES DU PEUPLE fertiggestellt hat, stirbt Eugène Sue.