Otto Ruppius
als Quelle von Karl May

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Fundstück Otto Ruppius

Von Robert Ciza

I.

Dass Karl May die Familienzeitschrift "Gartenlaube" offenbar bereits sehr früh kennen lernte, entnimmt man seinen Erinnerungen in "Mein Leben und Streben", wo er schildert, wie er - 16-jährig - der Redaktion dieser Zeitschrift eine Erzählung zum Abdruck anbietet [ 1 ]. Dass May die "Gartenlaube" auch als Vorlage oder zumindest Inspirationsquelle nutzte, ist ebenfalls seit längerem bekannt.
   Wilhelm Brauneder hat anhand der Übernahme des Begriffs "Cornel" im "Schatz im Silbersee" vor nicht allzu langer Zeit vermutet, dass sich May auch mit Otto Ruppius' Roman "Bill Hammer" aus dem Gartenlauben-Jahrgang 1862 beschäftigt hat [ 2 ]. Dieser Jahrgang der "Gartenlaube" weist allerdings u.a. noch eine weitere Arbeit von Ruppius auf, den Roman "Zwei Welten" [ 3 ], der uns gleich im ersten Kapitel auf May-Vertrautes stoßen lässt.

II.

Der junge Berliner Referendar Hugo Zedwitz ist auf Wanderreise in den Schweizer Alpen "als ein plötzliches donnerähnliches Geprassel aus scheinbar geringer Entfernung, von zahllosen nach und nach verhallenden Schlägen gefolgt, ihn auffahren ließ. Es war nicht der Donner der Lawine, es war das ganz bestimmte Geräusch eines massenhaften Einstürzens und Zerschellens..." (Welten S. 319). Kurz darauf muss er die junge Amerikanerin Jessy Winter aus Bergnot retten; ihr Bericht lautet:

"Ich erreichte endlich die Höhe des Gebirgskamms und empfand hier einen wunderlichen Reiz, mich am Rande der jäh hinunter fallenden Steinwand zu sehen. Ein Stück unter mir war ein eigenthümlicher Vorsprung, der wie ein Altan über dem Abgrunde hing, [...] ich sah auch bald einen zugänglichen Absatz, der mich völlig gefahrlos nach der Stelle leiten mußte; kaum habe ich mich aber einige Schritte jenseits des Kammes hingewagt, als sich ein Stück Felsen unter meinen Füßen loslöst und mir eben noch Zeit läßt, nach dem wahrgenommenen Absatze hinab zu springen [...]. Mit dem Momente, wo ich festen Boden erreiche, bricht neben mir ein Getöse los, daß ich meine, das ganze Gebirge stürzt mit mir zusammen, und als ich nach einer kurzen Betäubung, in die mich Lärm und Schrecken versetzt, wieder meiner Sinne völlig mächtig werde, sehe ich meinen Altan samt einer Strecke des bisherigen Felsenabhanges verschwunden und mit ihnen auch meinen Pfad zur Gebirgsspitze - ich war abgeschnitten" (Welten, S. 338).

Eine ähnliche Szene spielt sich in Karl Mays als Novelle bezeichneter "Wanda" [ 4 ] ab, wo der Schornsteinfeger Emil Winter die junge (adelige) Polin Wanda von Chlowicki aus einer ähnlichen Situation retten kann:

Im zweiten Kapitel, übertitelt "Im Felsbruch", erschüttert ein entsetzlicher Krach die Luft, sodass alle auf die Straße laufen. Der Lieblingsplatz Wandas in den Steinbrüchen - "der sogenannte "Altan", ein weithinausgehender Felsenvorsprung, welcher fast jeden Haltes entbehrte und zu der Verwunderung darüber berechtigte, daß er nicht längst schon in die gähnende Tiefe hinabgestürzt sei" - ist herabgestürzt. (Wanda, S. 478). Doch Wanda, die sich auf der Felskanzel befunden hatte, war von der "Macht der Explosion [...] seitwärts geschleudert" worden, und zwar in eine kleine Höhle, wobei "ein Theil des unteren Körpers über den Grund der Höhle herausragte und nur in den wenigen Dornenzweigen eine zweifelhafte Stütze fand". (Wanda, S. 480). Wie nicht anders zu erwarten, wird Wanda von Emil Winter gerettet und die Handlung kann weiter vorwärts schreiten.

III.

Gleich nachdem Zedwitz Jessy in "Zwei Welten" aus ihrer unfreiwilligen Lage befreit hat, wandern die beiden talwärts, als "der feine Regen plötzlich in einen gewaltigen Guß umschlug" (Welten, S. 324). Sie entdecken eine "der eigentümlichen Grotten, wie sie, vom Gebirgswasser ausgewaschen, sich in diesen Regionen der Alpen so oft finden. Es war nur ein enger Raum, der in seiner Tiefe kaum das Aufrechtstehen erlaubte; aber der Felsen ragte wie ein Dach über dem Eingange vor, und mußte schon hier Schutz vor dem Regen geben" (Ebd.).

Das Mädchen hat in der engen Höhle bereits einen Sitz gefunden, aber er "beim ersten Blicke erkennend, dass neben ihr kaum genügender Platz für ihn sei, nahm [...] seine Stellung an der inneren Oeffnung der Grotte" (Welten, S. 337). Doch die Springfluten werden so stark, dass sie ihn in die Höhle bittet. Er "sah sie mit eng zusammengerafften Kleidern in die Ecke gedrückt - es war dadurch allerdings ein Stück des improvisirten Sitzes frei geworden, aber doch kaum genug, um nicht ein dichtes Aneinanderschmiegen zweier Sitzenden notwendig zu machen" (Ebd.). Nach einigem Zögern nimmt er doch neben ihr Platz. "Sie zog die Schultern eng zusammen und preßte sich gegen die Seitenwand; er mußte aber dennoch seinen Arm hinter ihren Rücken schieben, um den nöthigsten Raum zu gewinnen" (Ebd.). "Der junge Mann fühlte plötzlich diese weichen, eleganten Formen, ihm völlig hingegeben, in seinem Arme, fühlte ihren klaren Blick wie einen warmen Sonnenstrahl in seine Seele fallen, und einen Moment lang überkam es ihn, als könne er der Versuchung nicht widerstehen, seinen Arm fest um das Mädchen zu schließen" (Ebd.).

Eine ähnliche, wenn auch wesentlich ausführlicher geschilderte Szene findet sich in Mays Roman "Der Weg zum Glück" [ 5 ], wo Rudolf Sandau auf dem Weg zur Mutter im Wald von einem Gewitter überrascht wird. Er erinnert sich an eine kleine Aushöhlung, die im Schutz bieten könnte. Auf dem Weg dorthin trifft er auf ein ihm unbekanntes Mädchen und nimmt sie mit sich. Auch hier die ähnliche Szene mit dem männlichen Darsteller, der erst sittsam im Regen steht und dann endlich nach innen gebeten, mangels ausreichenden Raumes nur Platz findet, wenn er den Arm um das Mädchen legen kann.

IV.

Während die ersten drei Kapitel in Europa spielen, wird der Leser im vierten nach Amerika geführt, wo er den Besitzer eines Landhauses im Süden der Staaten (namens Winter) im Gespräch mit dessen Tochter findet, die den ungeliebten Geschäftspartner des Vaters nicht heiraten will. (Der May-Kenner denkt hier möglicherweise an Wilkins, Almy und Leflor aus den Mayschen "Deutschen Herzen" [ 6 ] )

"'Pshaw! Schulmädchen=Ideen!' rief er, in einen leichteren Ton überspringend." (Welten, S. 386)

Dieses "pshaw" ist bekanntermaßen ein bei May vorwiegend in den Amerikaerzählungen und -romanen häufig verwendetes Wort, das die handelnden Personen meist statt eines despektierlichen deutschen "pah" einleitend an den Beginn ihrer Rede setzen. Bereits in Mays ersten bekannten Amerikaerzählungen, die im Jahre 1875 erschienen, finden wir dieses Wort.

V.

Ähnliche der geschilderten Szenen sind in der Literaturgeschichte sicher nicht einmalig, doch lässt eine Häufung der aufgezeigten Ähnlichkeiten es nicht als ganz abwegig erscheinen, dass May Ruppius - eine Übernahme fremden Textes konnte nicht erkannt werden - zumindest als Inspirationsquelle genutzt hat.

Gerade im Hinblick auf "Wanda" verblüfft auch ein Vergleich des Veröffentlichungszeitpunktes des Ruppius-Romans, bei dem die Felssturz-Episode etwa Ende Februar oder Anfang März 1862 in der "Gartenlaube" publiziert wurde, mit der späteren Aussage Mays, seine "Novelle" sei bereits zu Anfang der sechziger Jahre geschrieben [ 7 ]. Was läge in diesem Fall näher als der Verdacht, dass May sich hier beim Zeitschriftenstudium für die Gestaltung des eigenen Werkes anregen ließ. Bei der Schilderung des "Höhlenabenteuers" liegen zwar Jahre zwischen den beiden angeführten Werken, doch handelt es sich hier um Geschehnisse, die für einen Zwanzigjährigen auch über die Jahre durchaus einprägsam sein könnten.

Die Frage, ob May sein "pshaw" - den Begriff "pah" nachschlagend - einem Wörterbuch entnommen oder beim Studium fremder literarischer Erzeugnisse [ 8 ] aufgefunden hat, lässt sich ebenso wie die berühmte Frage nach der Henne und dem Ei wohl kaum lösen. "Zwei Welten" kann hier nur als mögliche weitere Fundstelle angeboten werden.


[ 1 ] Karl May: Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, S. 99.

[ 2 ] Wilhelm Brauneder: Der "Rote Cornel": Otto Rupius als Vorbild (MKMG 114/1997, S.14-15).

[ 3 ] Otto Ruppius: Zwei Welten. In: Die Gartenlaube, Illustrirtes Familienblatt. 10. Jg. (1861/62), Nr. 21-36 (im Folgenden zitiert mit der Abkürzung: "Welten" und der jeweiligen Seitenzahl).

[ 4 ] vgl. Karl May: Wanda. In: Der Beobachter an der Elbe, 2. Jg. (1874/75), S. 478ff (im Folgenden zitiert mit: "Wanda").

[ 5 ] vgl.: Karl May: Der Weg zum Glück (III), HKA Abt. II Bd. 28, Bargfeld 1999, S. 1349ff

[ 6 ] vgl.: Karl May: Deutsche Herzen Deutsche Helden, HKA Abt. II Bd. 21, Bargfeld 1996, S. 1189ff.

[ 7 ] Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1905 bzw. 1909); Repr. Bamberg 1982, S. 279.

[ 8 ] Weitere mögliche Quellen wären beispielsweise "Der letzte Mohikaner" von Cooper und Sealsfields "Kajütenbuch" oder vielleicht auch der eher unbekannte zweibändige Indianerroman "Die Gefangenen der Apachen" eines gewissen Paul Margot.


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